Woll-Lust

Manuela Pickart


In Zeiten, in denen Individualität groß geschrieben wird, gibt es keine bessere Garantie dafür, ein Unikat zu tragen, als es eigenhändig anzufertigen.


Zwei rechts, zwei links, Faden holen. Was viele mit dem Handarbeitsunterricht der Grundschule erleichtert hinter sich gelassen haben - nachdem es dann doch die Mutter war, die am Abend vor der Abgabe den Schal fertiggestrickt hat – ist für immer mehr junge Leute ein beliebter Zeitvertreib. Das Stricken wird nicht mehr nur mit Großmutters kratzenden Wollsocken in Verbindung gebracht, sondern liegt zunehmend im Interessenfeld jüngerer Generationen.

In Zeiten, in denen Individualität groß geschrieben wird, gibt es keine bessere Garantie dafür, ein Unikat zu tragen, als es eigenhändig anzufertigen. Mit eigens ausgewählter Wolle werden personalisierte Boshi-Mützen und Loop-Schals geschaffen, die man stolz als Eigenkreation betiteln kann, falls jemand nach der Herkunft fragen sollte. Neben dieser Exklusivität tut man ganz nebenbei auch noch was für das gute Gewissen. Denn in sozialer Hinsicht fühlt es sich in der kommerzialisierten Welt doch gleich viel besser an, sich vom eigenen Schal wärmen zu lassen, möchte man die Solidarität gegenüber Fabrikarbeitern in Bangladesch zum Ausdruck bringen. Und preiswerter als bei Ökolabels einzukaufen, ist der Eigenstrick allemal.

Mit dem Stricken ein Statement zu setzen ist dabei etwas Altbekanntes. Schon im Rahmen der französischen Revolution sollen Frauen, denen es untersagt war, sich in Nationalversammlungen zu äußern, ihren Widerstand ausgedrückt haben, indem sie sich strickend in den Publikumsrang setzten und die Worte der Männer mit Zwischenrufen kommentierten. Auch spätere feministische Bewegungen bedienten sich des Strickens als Ausdruck ihrer Meinung. In Österreich beispielsweise trug die erste Frauenbewegung bei Demonstrationen zum Frauenwahlrecht bestrickte Banner mit sich und wies gleichzeitig auf die Schlüsselstellung der Frau in der Textilproduktion und der damit verbundenen Stellung in der Ökonomie hin. Und auch der deutsche Bundestag blieb vom Stricken als politisches Statement nicht verschont. Als die Grünen frische Bundestagsmitglieder waren, bekannten sie sich mit dem Stricken während Sitzungen zum ökologischen Trend, wobei es nicht mehr ausschließlich Frauen waren, die sich der Handarbeit hingaben.

Wer heute des Strickens noch nicht mächtig ist, dem bieten sich eine Vielzahl an Möglichkeiten dies zu erlernen. Angefangen bei Mutter oder Großmutter, gibt es ein mehr als ausreichendes Angebot an VHS-Kursen mit überraschend niedrigem Durchschnittsalter. Auch Autodidakten wird durch zahlreiche Lehrbücher oder Strick-Tutorials auf Internetportalen die Möglichkeit geboten, das Handwerk selbst zu erlernen. Wem das nicht genug ist, der kann an speziellen Workshops rund um das Thema Stricken teilnehmen, die beispielsweise von einzelnen Woll-Geschäften angeboten werden, bis hin zu sogenannten „Wollness-Weekends“, die Stricken sowie das Kennenlernen von Gleichgesinnten, aber auch Entspannung versprechen.

Denn neben den erfreulichen Endprodukten wird dem Stricken zudem eine beruhigende Wirkung zugesprochen. Die gleichmäßig rhythmischen Bewegungen sollen entspannen und den Blutdruck senken. Das geht soweit, dass die Strickerei in den USA als das neue Yoga betitelt wird, exemplarisch demonstriert von Berühmtheiten wie Julia Roberts und Cameron Diaz. Und sogar die Aufnahmefähigkeit des Gehirns soll durch das Stricken merklich verbessert werden. Positiv auswirken soll sich das beispielsweise beim Vokabellernen, wobei durch die abwechselnden Bewegungen beide Gehirnhälften in Anspruch genommen werden und der Rhythmus beim Einprägen helfen soll.

Dass man mit dem Stricken durchaus Geld verdienen kann, beweisen fünf Sportstudenten aus dem Allgäu, die über einen Internetshop Mützen namens „Hatnuts“ vertreiben, die in Farbe, Größe und Design individuell gefertigt werden, wobei man sich sogar aussuchen kann, wer der fünf jungen Männer sich seiner Mütze annimmt. Selbst die Künstlerszene blieb vom Strick-Trend nicht verschont. So kann man in den Straßen Amerikas, Englands und Spaniens, aber längst auch in Deutschland eine Form von Streetart wiederfinden, die sich „Urban Knitting“ oder „Strick-Graffiti“ nennt. Hierbei werden Gegenstände im öffentlichen Raum durch Strickwaren verändert oder gar ganz eingestrickt, was nicht selten eine symbolische, oftmals feministische Bedeutung trägt.

In einer Welt, die immer schneller und hektischer zu werden scheint, ist der Griff zu Wolle und Nadeln wohl für viele ein willkommener Ausgleich zum Alltagsleben. Sollte diese Begeisterung auch auf die Grundschulkinder überschwappen, ist es möglicherweise künftig nicht mehr die heimliche Aufgabe der Mutter, den Anforderungen der Handarbeitslehrerin gerecht zu werden.